Christian Kessler

  Als ich das erste Mal in den Genuß eines Stückes der Solinger Band S.Y.P.H. kam, geschah dies auf dem Höhe- bzw. Tiefpunkt meiner Besessenheit mit jenem marktstrategisch gewieften Phänomen, das sich "Neue Deutsche Welle" nannte und in dessen Fahrwasser gelegentlich wirklich feine Sachen mit an die Gestade geschwappt wurden. Die Musiker hatten sich auf einen ohnehin bereits relativ hörbaren "Teldec"-Sampler geschlichen, auf dem u.a. auch Bands wie Mittagspause, Der Plan und The Wirtschaftswunder zu hören waren. Das dort verwendete (ansonsten unveröffentlichte) Stück nannte sich "Laber Larry". Es beginnt mit einem sehr langweiligen Radiosprecher, dessen Monoton sofort abgewürgt wird von einer Katastrophe schweren Ausmaßes. Diese Katastrophe bricht herein in Gestalt einer rückwärts aufgenommenen (oder abgespielten, was weiß ich) Fräsgitarre, die sich zu einem unerbittlich dahinstampfenden Basslauf in die Gehörgänge drückt, gelegentlich unterbrochen von Tape-Einsprengseln undefinierbarer Abkunft. (Vermutlich derselbe Radiolangeweiler in unterschiedlichen Geschwindigkeiten...)

Diese experimentelle Obskurität faszinierte mich bereits zu einer Zeit, als Flugsaurier noch am Himmel kreisten und das Fußball-Ballett unschuldige Gemüter mit den Segnungen des Humors bekannt zu machen versuchte. In der Folgezeit füllte sich mein Plattenschrank mit S.Y.P.H.-Material. Leider tat er das erst zu einer Zeit, als diese Leckerli bereits monströse Preise auf dem Plattenmarkt erzielten. Die gezielte Güterumverteilung brachte mich nicht selten an den Bettelstab - na gut, hier übertreibe ich ein wenig, aber ich mag die Redewendung so! (Auch schön: Man warf mir den Bettel hin...)

Während die erste LP von S.Y.P.H. noch sehr leicht als (wenn auch ungewöhnlich gewitzter) Punkrock empfunden werden mag, so flossen doch schon in den (meist unbetitelten) Folgeprodukten zahlreiche experimentelle Einflüsse ein, die sich u.a. in sehr ausufernden Passagen ausdrücken, in denen die Musiker auf einem Motiv herumtrommeln, als habe es die sprichwörtliche Gans gestohlen, oder im gezielten Gebrauch flapsiger Improvisationen. In dieser Hinsicht unterschieden sie sich sehr von "benachbarten" Bands wie z.B. Mittagspause, die auch jenseits ihrer eigenen Qualitäten als freundliche Punk-Knabberware konsumiert werden konnten.

Mein eigenes Problem mit Punk ist eigentlich immer gewesen, daß sich die gleichförmige Gestaltung leider auch bald in einer gewissen Uniformität des Charakters und der Gewandung ausdrückte. Ich finde das immer recht befremdlich, wenn die vermeintliche Alternative irgendwann so soldatesk wie ein x-beliebiger Haufen von Fußballfans daherkommt, zumal man ja doch immer den Anspruch erhebt, sich von den sortierten Brüdern abzusetzen. Daß Spaß an der eigenen subversiven Gesinnung sehr viel eher Gehirnschmalz und Kreativität verrät als stumpf hervorgebrabbelte Gemeinplätze ("Wie lautet die Parole?"), demonstrierten S.Y.P.H. nachdrücklich, wobei sie auch auf späteren Erzeugnissen nie allzu weit weg vom Punk agierten.

Die schillerndste Gestalt der Gruppe war sicherlich Frontmann Harry Rag, der S.Y.P.H. anno 1977 aus der Taufe hob. In den achtziger Jahren bewegte sich der junge Mann mehr und mehr in Richtung Kino. Neben einigen Volontariaten bei David Lynch (BLUE VELVET) und Wim Wenders (DER HIMMEL ÜBER BERLIN) fertigte er zahlreiche Kurzfilme von meist dokumentarischem Charakter, häufig in Zusammenarbeit mit dem WDR. Der bekannteste seiner Filme ist sicherlich NO FRANK IN LUMBERTON, in dem er seine Impressionen zu den Dreharbeiten von BLUE VELVET verarbeitet. Gesehen habe ich leider nur DER WUNDERBARE MANDARIN, eine sehr experimentelle Version von Béla Bartóks gleichnamigem Werk, in dem auch Leute wie Campino, Tommi Stumpff und Frieder Butzmann auftauchen. Er gründete die Taris-Filmproduktion, auf deren Webpage man eine gute Auflistung seiner Erzeugnisse finden kann: www.taris-film.de. Mittlerweile lebt er zusammen mit der slowenischen Filmemacherin Maja Weiss in Ljubljana (Laibach).

Ähnlich hingebraatzt wie die Musik (von seinen Kollegen Uwe Jahnke, Ulli Putsch und Jojo Wolter) war auch Harrys Vortrag der Texte, der auch vor der Verwendung von Jaul-, Stöhn- und Greinlauten nicht haltmachte. Die Texte wirken häufig ebenfalls improvisiert und verwenden eine simple und direkte Sprache, deren scheinbare Bedeutungsverrutscher zwar oft komisch wirken, aber sehr schnell äußerst verwirrende Gefühle hervorrufen können. (Sehr schön z.B. die Alternativversion von "Rocket Man" auf seiner Soloplatte "Trauerbauer", die als dialektale Monstrosität beginnt und fast auf Helge-Schneider-Pfaden wandelt, dann aber auf einmal ernsthafte Momente aus dem Hut zaubert, die mir das Stück sehr ans Herz geschweißt haben.) Die Verhutzelung der Worte zeitigt nicht selten sehr poetische Resultate, und es ist gerade diese Unvorhersehbarkeit, aus der die Musik von S.Y.P.H. für mich ihren Hauptreiz bezieht. Man bekommt vermittelt: Die Wirklichkeit ist eine sehr subjektive Angelegenheit, und wer sich wirklich mit ihr anlegen möchte, muß sich auf ein Wechselbad der Gefühle einstellen. Die treuen Fans der Gruppe wissen dieses Wechselbad durchaus zu schätzen, wobei ein abenteuerfreudiges Gemüt bei der Erschließung des S.Y.P.H.-Universums durchaus nicht von Nachteil ist.

Hier ein paar ihrer Scheff-Döwres:

1. LP ( 1979):

Bis zum heutigen Tage eine der besten deutschen Punk-Platten. Mit beherzter Frechheit donnern sich die Musiker durch 10 Stücke, von denen das erste das berühmte "Zurück zum Beton" ist. Mein persönlicher Favorit bleibt aber "Lachleute + Nettmenschen", das auf der vor kurzem veröffentlichten und neu abgemischten CD noch schräger und brachialer wirkt. ("Lachleute + Nettmenschen um mich herum, Fassade, Fassade, alles nur Fassade, Glück + Marlboro für jeden, für jeden...") Auch sehr schön die Romanze "Industrie-Mädchen" ("...vor Freude riß ich fast die Hochspannung nieder...") und das sirenige Schluß-Instrumental "Kisuaheli". Wie einflußreich das Album war, kann man u.a. daraus ersehen, daß erst 1997 die Punkband Die böse Hand (mit Mitgliedern der Boxhamsters und EA80) eine 7´´-Coverplatte aufnahm, die im Singleformat sämtliche Stücke der Beton-Platte in Kurzform durchrasselt und alles in allem ziemlich viel Spaß macht. Zwar ist diese erste S.Y.P.H.-LP noch vergleichsweise frei von experimentellen Schlenzern, aber ihre energische Direktheit wirkt einfach entwaffnend und inspirierend. Vor der LP war bereits eine EP herausgekommen, die in meiner Plattensammlung aber durch Abwesenheit glänzt. Auf der später herausgekommenen Live-Platte (gelbes Cover) kann man aber einen früheren Auftritt bewundern, bei dem Harry und Co. scheinbar frei improvisieren, rund um das Thema Industrie + Kapitalismus... (Die zweite Seite von jenem Album enthält generellen Dödelkram unterschiedlichen Charakters.)

2. LP/ 3. LP (1980/1981):

Beide zusammen mittlerweile auf einer japanischen CD wiederveröffentlicht, die dem Käufer die Anschaffung mit einem manischen Dauergrinsen dankt. Einen großen Einfluß übte bei beiden Produktionen das "Can"-Urgestein Holger Czukay aus, und es scheint so, als habe die Anwesenheit dieses hehren Recken den S.Y.P.H.´lern Mut gemacht, ihre Vorstellungen kompromißlos durchzusetzen. Während die erste Platte (auf dem Cover "Pst!" betitelt) noch Ansätze einer kommerziell leichter verdaubaren Liedstruktur besitzt (insbesondere auf der ersten Seite, mit dem bekannten "Moderne Romantik"), stellt die zweite ein seltsam einschmeichelndes Sammelsurium aus langen Instrumentalpassagen und irritierenden Sprachfetzen dar, das seinen großartigen Höhepunkt in dem langen "Little Nemo" findet. Das von Czukay komponierte Stück ist sicherlich eines der eindrucksvollsten Stücke der Gruppe und versieht jeden Zuhörer mit seinem eigenen Tiefseetaucherhelm. Formlosigkeit von solcher Anmut finde ich unbedingt anbetungswürdig!

Harbeitslose (1982):

Juchhei, endlich eine Platte mit Titel! Und zwar eine, in die ich mich erst einmal eine Zeit lang einhören mußte, zusammengesetzt aus grundsätzlich netten Liedern und langen Instrumentalstücken... Mittlerweile finde ich das Album extrem großartig. Es eignet sich perfekt zur Meditation nach nervigen Tagen, oder wenn man gerade mehrere Stunden duller Daily-Talk-Sendungen durchgesessen hat und die gesamte Menschheit aus anorektischen Infotainment-Muschis und schamlosen Nulpen zu bestehen scheint. Herr Jahnkes Gitarre brezelt sich quer durch Quebec, während Harry sehr relaxed herumknurpselt. Zu den hitparadenverdächtigeren Stücken zählen das neugierige "Hörzu" ("Sangsemal - stimmt das?") und das vollkommen sedierte "Ich glaub die Liebe". Das Schlußstück "Altbier in Alphaville" offeriert dann noch einen kleinen Italienischkursus. Die Platte drückt jede Harbeitslosenquote!

Doppelsingle (1982):

Mein privater Favorit. Auf dem Innencover befinden sich neben sämtlichen Texten auch zahlreiche Fotos von den Musikern. Damit aber nicht genug: Die Platte enthält auch Musik, und zwar etwa 20 Minuten davon! In dem wunderbaren "Der Bauer im Parkdeck" ("...der Bauer, der in jedem von uns steckt...") knödelt sich Harry im Stadium der Volltrunkenheit durch ein Landfluchtdrama, dem frühe Versionen von "Alte Freundin" und "Traumraum" folgen. Seite 3 enthält sehr kurze Schrammelstücke, unter denen "Ich bin so herrlich anonym" hervorsticht, das in einer anderen Version auch mal auf irgendeinem Tape herausgekommen ist. Bevor dann eine Endlosrille dem Leben des Hörers ein Ende setzt, verabschiedet sich die Band mit dem erhabenen "Maschine von Beruf". ("Else setzt sich neben mir. Else, ich herrsche Dir! Komm, ich matratz´ dich...")

Am Rhein (1984):

Kaum habe ich diese Platte bekommen, habe ich sie auch schon wieder verbummelt: So geht das mit vielen schönen Dingen im Leben! Auf ihr befinden sich u.a. überaus hörenswerte Studioversionen der Lieder "Ich bin die 11. Frau im Harem" ("...und möcht´ so gern die 9. werden...") und "Mein Esel ist kaputt". Außerdem werden die Abenteuer eines Handelsvertreters namens "Oliver" besungen. Harrys "Schwesterlein" bekommt eine gefühlvolle Ballade gespendet. Überhaupt ist die Platte relativ unkrachig, mit Ausnahme von "Die Matchbox-Generation", in dem es heißt: "Hier gibt es keine Toiletten - hier müssen Sie in die Hosen machen!" Das habe ich dann auch... Unbedingt erwähnenswert ist auch die Harry-Rag-Solo-Ten-Inch "Trauerbauer", die nicht nur mit gefärbtem Vinyl prunkt, sondern auch mit einer Vielzahl schöner Songs, unter denen aber eindeutig die beiden Versionen von "Rocket Man" hervorstechen. Speziell auf der zweiten beginnt Harry mit einem bizarren Helge-Schneider-Dialekt-Geknurpsel, das dann aber zunehmend mit Emotionen ganz ernsthafter Art verstört: "Min Vater war ´nen Rocket Man, er liebte die Welt hinter den Dingen..."

Doppelalbum (1985):

Zusammen mit den Chefplanern von Ata Tak erwirtschaftete man das weiße Album von S.Y.P.H., das bei der jüngst erfolgten CD-Veröffentlichung "Wieleicht" betitelt wurde. Die erste Seite enthält vollkommen radiokompatible Popsongs, unter denen eine sanfte Version von "Traumraum" ("Das Leben ist vorbei, ich fühl´ mich so alleine, das Leben ist vorbei, ich glaube, ich weine...") und das scherzhafte "Pamela" hervorlugen. Seite 2 gibt uns einige längere Stücke mit ausgedehnten Gitarrenpassagen. "Der Junge mit der Sehnsucht" wurde später auf der EXTREM lauten Liveplatte "Stereodrom" in gleich zwei Alternativversionen präsentiert, bei denen bleibende Gehörschäden nicht ausgeschlossen sind. ("Ich war bei Ruth in Beirut und in Knut in Oslo..."). Ganz vorbei auf Seite 3: Neben einigen stark punklastigen Stücken gibt es das marschverdächtige "Tausend nackte Neger" und das debile Stimmungsbild "Vol del BLD", in dem der Besitzer einer chinesischen Wäscherei über das Leben in Deutschland reflektiert. Das Stück "Deutsches Kultur ist scheiße" wurde bei der CD-Veröffentlichung fallengelassen, was möglicherweise andeutet, daß die Künstler det Dingen nicht mehr mögen... Im Folgejahr kam noch eine Art Dancefloor-Maxi heraus, "I Want U", bei der mich die instrumentale B-Seite aber mehr gekitzelt hat.

Diese CD (gab´s die auch auf Vynil? weißnich! weißnich!) enthält Material, das zwischen 1989 und 1993 zusammengetragen wurde, und lebt von einer ähnlich charmanten Sammelsurigkeit wie die vorangegangenen Werke, nur daß die alten Geschichten hier mit einigen neuen Protagonisten versehen werden. Während das punkverwandte "Wo bist du?" auf alten Wegen stromert, bedient sich "Pechschwarz" sogar lasziver House-Rhythmen; die Wunder werden nicht alle. Das lustigste Stück ist sicherlich "Ping Pong und die weiße Frau", das ein und denselben Vers über fast zehn Minuten gnadenlos repetiert, so lange, bis er fast etwas bedeutet. So, draußen scheint Mutter Sonne zu heiß - das muß getz reichen, woll!

Das Neueste vom Tage: Nicht mehr lange, dann wird alles gut. Denn bald öffnen www.purefreude.de (Harrys berühmtes Label) und www.syph.de ihre Pforten. Hierüber (hoffentlich) bald mehr...

Dem Vernehmen nach ist geplant, demnächst eine CD mit ausgewählten Sachen herauszubringen. Wir halten Sie auf dem Laufenden!

P.S.: Versäumen Sie auch nicht die beiden "Boss und Beusi"-Singles, mit denen Harry einst außerplanmäßig pure Freude verstreute. Ich besitze nur die "Shaleika/Sinus"-7``, finde die aber große Klasse! Andere "Pure Freude"-Releases umfaßten etwa Ralf Dörper, das Dörper-Projekt Die Lemminge und den glorreichen Jürgen Dönges...